Selbstorganisation im Team: Warum Governance der Schlüssel ist
Immer mehr Organisationen und Teams entdecken die Vorteile flacher Hierarchien und setzen auf Selbstorganisation. Doch in der Praxis kann dieser Wandel herausfordernd sein: Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was „selbstorganisiert“ bedeutet, und bringen eigene Arbeitsstile und Bedürfnisse mit. Während manche Teammitglieder:innen möglichst schnell und ohne große Abstimmungen handeln möchten, fühlen sich andere erst sicher, wenn Prozesse klar definiert sind. Dieses Spannungsfeld kann leicht zu Reibungen führen, die den eigentlichen Zweck von Selbstorganisation – mehr Agilität, Verantwortungsbewusstsein und Motivation – gefährden.
Was ist Governance und warum ist sie wichtig?
Damit aus Selbstorganisation kein Chaos wird, braucht es einen Rahmen, in dem sich das Team gut orientieren kann. Diesen Rahmen bezeichnet man als Governance. Governance umfasst alle Rollen, Regeln, Prozesse und Strukturen, die das gemeinsame Arbeiten lenken. Anders als in einer klassischen Hierarchie ist Governance in selbstorganisierten Teams jedoch flexibel: Sie wird regelmäßig überprüft und an neue Anforderungen angepasst.
Warum ist das so wichtig?
- Klare Verantwortlichkeiten: Teammitglieder:innen müssen wissen, wer wofür zuständig ist und welche Erwartungen sie aneinander haben können.
- Strukturierte Entscheidungsprozesse: Ohne Klarheit darüber, wer Entscheidungen treffen darf und in welchem Rahmen, entsteht schnell Unsicherheit.
- Effizientes Arbeiten: Wenn Governance stimmt, müssen nicht ständig dieselben Fragen gestellt werden („Darf ich das entscheiden? Brauche ich die Zustimmung aller?“).
- Raum für Unterschiede: Ein flexibles Regelwerk ermöglicht es Menschen mit verschiedenen Arbeitsstilen und Bedürfnissen, sich bestmöglich einzubringen, ohne dass ein Durcheinander entsteht.
Typische Fragestellungen der Governance
In der Praxis zeigt sich der Wert guter Governance besonders deutlich, wenn das Team sich die folgenden Fragen stellt – und klar beantwortet:
1. Wer ist wofür verantwortlich?
- Welche Aufgaben müssen kontinuierlich erledigt werden und wer übernimmt sie?
2. Welche Erwartungen haben wir aneinander?
- Was dürfen Kolleg:innen von mir erwarten (z. B. in Sachen Reaktionszeit oder Genauigkeit)?
- Worauf kann ich mich bei anderen verlassen?
3. Wie werden Entscheidungen getroffen und wo sind Grenzen gesetzt?
- Welche Entscheidungen treffe ich allein, welche im Team?
- Wo ist ein gemeinsames Veto nötig?
4. Welche Regeln und Beschränkungen gelten für unsere Zusammenarbeit?
- Wie gehen wir mit Konflikten um?
- Welche Kommunikationswege nutzen wir?
5. Wie passen wir unsere Governance an, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern?
- Welche Prozesse gibt es, um Rollen und Regeln zu aktualisieren?
- In welchen Abständen überprüfen wir unsere Strukturen?
Governance als dynamisches System
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist, dass „Governance“ gleichbedeutend mit festgefahrenen Vorschriften sei. Tatsächlich ist gute Governance lebendig und wird in regelmäßigen Abständen hinterfragt: Was hat sich bewährt und was nicht? Welche neuen Anforderungen sind aufgetaucht? Dadurch bleibt der Rahmen immer relevant und hilft dem Team, effizient zusammenzuarbeiten, ohne unnötig eingeschränkt zu sein.
Praxisbeispiel: Dynamische Rollen statt starrer Stellenbeschreibungen
Ein Beispiel für eine lebendige Governance sind dynamische Rollen. In vielen Unternehmen gibt es statische Stellenbeschreibungen, die kaum noch zu den tatsächlichen Tätigkeiten passen. Dynamische Rollen hingegen werden regelmäßig aktualisiert, sodass klar bleibt, wer welche Verantwortlichkeiten hat – und zugleich alle Beteiligten flexibel auf neue Herausforderungen reagieren können. Dies schafft Sicherheit und Transparenz, ohne den Handlungsspielraum übermäßig zu begrenzen.
Wie Teams Reibungen abbauen können
Gerade wenn Teammitglieder:innen sehr unterschiedliche Erwartungen an Selbstorganisation haben, bieten strukturierte Prozesse zur Reflexion und Anpassung einen Weg, diese Reibungen produktiv zu nutzen:
- Workshops und Retrospektiven: Das Team tauscht sich aus, welche Rollen, Regeln und Prozesse gut funktionieren und welche nicht.
- Offene Kommunikation und Feedback-Kultur: Eine positive Fehlerkultur, in der Kritik und Verbesserungsvorschläge willkommen sind, trägt maßgeblich dazu bei, Konflikte frühzeitig anzusprechen.
- Klare Dokumentation: Damit alle denselben Wissensstand haben, sollten wichtige Entscheidungen und Rollenbeschreibungen stets für alle sichtbar sein.
- Moderation oder Coaching: Externe Moderator:innen oder Coaches können dabei helfen, Governance-Strukturen zu etablieren und Konflikte konstruktiv zu lösen.
Fazit
Selbstorganisation heißt nicht, dass jede:r tut, was sie:er will. Vielmehr geht es darum, Teammitgliedern:innen Verantwortung und Freiheit zu übertragen – aber innerhalb eines klaren, flexiblen Rahmens. Dieser Rahmen wird durch Governance geschaffen und muss sich mit dem Team weiterentwickeln, damit er wirklich getragen und gelebt wird. Nur so gelingt es, die Vorteile der Selbstorganisation – von höherer Motivation bis zu größerer Innovationsfähigkeit – voll auszuschöpfen und dabei Reibungsverluste zu minimieren.
Gute Governance ist somit kein bürokratisches Hindernis, sondern ein Enabler für erfolgreiche Zusammenarbeit: Sie gibt Orientierung, schafft Sicherheit und lässt gleichzeitig genug Raum für individuelle Arbeitsstile. Indem Teams ihre Governance aktiv gestalten und anpassen, werden potenzielle Konflikte zu einem Motor für Veränderung und Lernen – und Selbstorganisation kann sich als nachhaltiges Erfolgsmodell etablieren.