Wer hat es nicht schon erlebt? In vielen Unternehmen sitzen Menschen in Führungspositionen, die offenkundig nicht die nötigen Fähigkeiten besitzen, um effektiv zu führen. Mitarbeiter sind demotiviert, die Fluktuation ist hoch, und die Produktivität leidet. Doch wie kann es sein, dass so viele ungeeignete Führungskräfte an die Spitze gelangen? Die Antwort liegt in einem grundlegenden Konstruktionsfehler in unserem Ansatz zur Auswahl von Führungskräften.
Der Fokus auf fachliche Expertise statt auf Führungsfähigkeiten
Traditionell werden Mitarbeiter aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und Expertise in einem bestimmten Bereich befördert. Ein hervorragender Ingenieur wird zum Teamleiter, ein erfolgreicher Verkäufer zum Verkaufsleiter. Dieses Vorgehen basiert auf der Annahme, dass jemand, der in seinem Fachgebiet exzellent ist, automatisch auch ein guter Führer sein wird. Doch diese Gleichung geht selten auf. Die Fähigkeiten, die jemanden in seiner Fachrolle erfolgreich machen, sind nicht unbedingt dieselben, die für effektives Management und Führung erforderlich sind.
Das Peter-Prinzip und seine Auswirkungen
Dieses Phänomen ist nicht neu und wurde bereits in den 1960er Jahren durch das Peter-Prinzip beschrieben. Es besagt, dass in einer Hierarchie jeder dazu neigt, bis zu seiner Stufe der Inkompetenz aufzusteigen. Mitarbeiter werden so lange befördert, bis sie eine Position erreichen, in der sie nicht mehr effektiv sind, weil die Anforderungen der neuen Rolle nicht zu ihren Fähigkeiten passen. Das Ergebnis sind Führungskräfte, die zwar fachlich kompetent sind, aber in ihrer Führungsrolle scheitern.
Die Vernachlässigung von Führungsqualitäten in Stellenanzeigen
Ein weiterer Aspekt des Problems ist, dass Führungsfähigkeiten in Stellenanzeigen oft kaum berücksichtigt werden. Haben Sie schon einmal eine interne oder externe Stellenausschreibung gesehen, die ausführlich nach Führungsqualitäten fragt? In den meisten Fällen beschränkt sich die Anforderung auf eine vage Formulierung wie “Führungserfahrung gewünscht”. Welche Art von Führungserfahrung das ist, bleibt unklar und scheint nicht von Bedeutung zu sein. Es wird nicht differenziert, ob diese Erfahrung positiv war oder ob die betreffende Person in ihrer vorherigen Führungsrolle erfolgreich war.
Die Qualität der Führungserfahrung zählt
Es reicht nicht aus, lediglich nach Führungserfahrung zu fragen, ohne die Qualität dieser Erfahrung zu berücksichtigen. Jemand könnte jahrelang in einer Führungsposition gewesen sein und dennoch schlechte Führungspraktiken angewandt haben. Ohne eine genaue Analyse der Führungsfähigkeiten und des Führungsstils riskieren Unternehmen, ineffektive oder sogar schädliche Führungskräfte einzustellen oder zu befördern.
Die Auswirkungen schlechter Führung
Schlechte Führung hat weitreichende Konsequenzen für ein Unternehmen. Sie kann zu niedriger Mitarbeitermotivation, hoher Fluktuation, geringer Produktivität und einem schlechten Arbeitsklima führen. Zudem kann sie Innovationen hemmen und letztlich den Unternehmenserfolg gefährden. Mitarbeiter verlassen nicht selten Unternehmen wegen schlechter Vorgesetzter, nicht wegen der Arbeit an sich.
Warum werden Führungsfähigkeiten vernachlässigt?
Es gibt mehrere Gründe, warum Führungsfähigkeiten in der Auswahl von Führungskräften vernachlässigt werden:
- Messbarkeit: Fachliche Kompetenzen sind oft leichter zu messen und zu bewerten als weiche Fähigkeiten wie Führung und Kommunikation. Es ist einfacher, jemanden aufgrund von Abschlüssen, Zertifikaten oder nachweisbaren Erfolgen in Projekten zu beurteilen.
- Tradition und Kultur: In vielen Branchen ist es üblich, die besten Fachkräfte zu befördern. Es wird als natürliche Karriereentwicklung angesehen, ohne zu hinterfragen, ob die Person auch Führungsqualitäten besitzt.
- Zeit- und Ressourcendruck: Eine gründliche Bewertung von Führungsfähigkeiten erfordert Zeit und Ressourcen, die Unternehmen nicht immer investieren wollen oder können.
- Fehlendes Bewusstsein: Oft wird unterschätzt, wie wichtig gute Führung für den Erfolg eines Teams oder Unternehmens ist. Die Annahme, dass fachliche Kompetenz ausreicht, ist weit verbreitet.
Wie können wir das ändern?
Um sicherzustellen, dass die richtigen Personen in Führungspositionen gelangen, müssen Unternehmen ihren Ansatz bei der Auswahl von Führungskräften überdenken.
1. Klare Definition von Führungsanforderungen
Stellenbeschreibungen sollten detaillierte Anforderungen an Führungsfähigkeiten enthalten. Dazu gehören Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Empathie, Konfliktlösung, strategisches Denken und die Fähigkeit, Teams zu motivieren und zu inspirieren. Diese Fähigkeiten sollten nicht nur als “wünschenswert” aufgeführt, sondern als essentielle Kriterien betrachtet werden.
2. Strukturierte Auswahlprozesse
Anstelle sich nur auf den Lebenslauf und fachliche Qualifikationen zu verlassen, sollten strukturierte Interviews, Assessment-Center und psychometrische Tests eingesetzt werden, um die Führungsfähigkeiten der Kandidaten zu bewerten. Simulationen von Führungssituationen oder Fallstudien können ebenfalls hilfreiche Instrumente sein.
3. Entwicklung interner Talente
Unternehmen sollten Programme zur Entwicklung von Führungskräften einführen, um Mitarbeiter auf zukünftige Führungsrollen vorzubereiten. Dies kann durch Trainings, Mentoring und Coaching erfolgen. Dadurch wird sichergestellt, dass potenzielle Führungskräfte die nötigen Fähigkeiten erwerben, bevor sie in eine Führungsposition aufsteigen.
4. Feedback-Kultur fördern
Eine Kultur, in der regelmäßiges Feedback gegeben und empfangen wird, kann helfen, Führungsdefizite frühzeitig zu erkennen und zu adressieren. 360-Grad-Feedback ist hierbei ein effektives Instrument, da es Rückmeldungen von Vorgesetzten, Kollegen und Untergebenen beinhaltet.
5. Kontinuierliche Weiterbildung
Auch Führungskräfte sollten sich ständig weiterbilden. Führungsseminare, Workshops und Coaching können helfen, Führungsfähigkeiten zu verbessern und an neue Herausforderungen anzupassen. Dies zeigt auch den Mitarbeitern, dass das Unternehmen Wert auf gute Führung legt.
Die Rolle der Unternehmenskultur
Eine Unternehmenskultur, die gute Führung wertschätzt und fördert, ist entscheidend. Wenn Führungskräfte nicht nur nach ihrem fachlichen Können, sondern auch nach ihrer Fähigkeit, Teams erfolgreich zu führen, bewertet und belohnt werden, setzt dies die richtigen Anreize. Mitarbeiter sollten ermutigt werden, Führungspositionen anzustreben, wenn sie die entsprechenden Fähigkeiten mitbringen, und nicht nur, weil es der nächste logische Schritt in ihrer Karriere ist.
Erfolgsbeispiele aus der Praxis
Einige Unternehmen haben diese Herausforderungen erkannt und erfolgreich gemeistert. Beispielsweise setzen Firmen wie Google und Microsoft auf umfangreiche Auswahlverfahren, die sowohl fachliche als auch Führungsqualitäten prüfen. Sie investieren in die Entwicklung ihrer Führungskräfte und fördern eine Kultur der offenen Kommunikation und des kontinuierlichen Lernens.
Start-ups und moderne Unternehmen legen oft von Anfang an großen Wert auf flache Hierarchien und gute Führung. Sie erkennen, dass der Erfolg des Unternehmens maßgeblich von der Qualität der Führung abhängt und dass Mitarbeiter ihr volles Potenzial nur entfalten können, wenn sie effektiv geführt werden.
Fazit
Der Weg zu besseren Führungskräften beginnt mit der Erkenntnis, dass fachliche Expertise allein nicht ausreicht. Unternehmen müssen aktiv danach streben, Führungsfähigkeiten bei der Auswahl und Entwicklung von Führungskräften in den Vordergrund zu stellen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Personen, die Teams und Abteilungen leiten, auch tatsächlich die Fähigkeiten mitbringen, um diese Rolle erfolgreich auszufüllen.
Es ist an der Zeit, den Konstruktionsfehler in unserem Ansatz zur Führungskräfteauswahl zu beheben. Indem wir Führungsfähigkeiten genauso ernst nehmen wie fachliche Kompetenzen, können wir den Grundstein für effektive Führung legen und damit letztlich den Erfolg unserer Unternehmen sichern. Denn eines ist klar: Ohne gute Führung wird es nichts mit langfristigem Erfolg.