Die Arbeitswelt hat sich radikal verändert – doch viele Unternehmen haben ihre Methoden zur Mitarbeitergewinnung nicht angepasst. Während Kündigungsraten Rekordhöhen erreichen und der Arbeitsmarkt sich in einem ständigen Wandel befindet, setzen viele Firmen weiterhin auf veraltete Strategien, um Talente zu gewinnen und zu binden. Doch diese Maßnahmen greifen nicht mehr: Klassische Anreize wie Gehaltserhöhungen, Aufstiegschancen oder Titel reichen längst nicht mehr aus, um viele Arbeitskräfte zu überzeugen. Die „Große Abwanderung“ – ein Phänomen, das mit der Pandemie seinen Anfang nahm – ist nicht nur ein temporärer Trend. Sie hat sich zu einer „Großen Neuverhandlung“ entwickelt, die das Verhältnis zwischen Arbeitgeber:innen und Beschäftigten grundlegend verändert hat. Um in dieser neuen Ära des Arbeitsmarktes zu bestehen, müssen Unternehmen umdenken. Welche Ansätze jetzt gefragt sind, zeigt ein aufschlussreicher Bericht.
Steigende Zahl an offenen Stellen und Kündigungen
Die Zahl der offenen Stellen hat weltweit Rekordhöhen erreicht. Allein in den USA waren im Mai 2022 mehr als 11 Millionen Stellen unbesetzt – ein deutlicher Anstieg gegenüber 9,3 Millionen im April 2021. Gleichzeitig liegt die freiwillige Kündigungsrate 25 Prozent über dem Vorkrisenniveau. Dies hat zu einem massiven Missverhältnis zwischen der Nachfrage nach Arbeitskräften und dem verfügbaren Angebot geführt.
Trotz dieser alarmierenden Zahlen halten viele Unternehmen an traditionellen Methoden zur Mitarbeitergewinnung fest. Sie setzen weiterhin auf höhere Gehälter, Aufstiegschancen und Jobtitel, um Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten. Während diese Maßnahmen für einige Beschäftigte, die sogenannten „Traditionalist:innen“, attraktiv sein mögen, haben viele andere inzwischen ganz andere Prioritäten: Die Pandemie hat viele Menschen dazu veranlasst, ihre Vorstellungen von einem erfüllten Arbeitsleben grundlegend zu überdenken.
Veränderte Prioritäten der Belegschaft
Die COVID-19-Pandemie hat tiefgreifende Veränderungen in den Erwartungen der Arbeitskräfte bewirkt. Immer mehr Menschen ziehen es vor, sich aus traditionellen Jobstrukturen zu lösen. Sie wechseln Branchen, gehen in nicht-traditionelle Arbeitsverhältnisse wie Teilzeit- oder Gig-Jobs oder gründen eigene Unternehmen. Viele haben sich auch entschieden, aus dem Arbeitsleben auszusteigen, um sich um persönliche Angelegenheiten wie Kindererziehung, die Pflege von Angehörigen oder die eigene Selbstfürsorge zu kümmern.
Diese Entwicklung hat eine strukturelle Lücke auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen, die durch die klassischen Anreizsysteme nicht geschlossen werden kann. Ein einfaches Anheben der Gehälter reicht nicht mehr aus, um die Fluktuation zu reduzieren. Vielmehr suchen viele nach neuen, kreativen Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung, die ihren individuellen Bedürfnissen nach Flexibilität, mentaler Unterstützung und Sinnhaftigkeit gerecht werden.
Segmentierung der Belegschaft
Die Untersuchung des Arbeitsmarktes zeigt, dass Arbeitskräfte nicht mehr als homogene Gruppe betrachtet werden können. Sie lassen sich in verschiedene „Personas“ einteilen, die jeweils unterschiedliche Erwartungen und Motivationen an ihre Arbeitsverhältnisse haben. Die Studie identifiziert fünf wesentliche Arbeitnehmer:innen-Personas:
a) Die Traditionalist:innen
Traditionalist:innen sind jene Arbeitskräfte, die sich in klassischen Vollzeitjobs wohlfühlen. Sie legen Wert auf Stabilität, Gehalt und Karriereentwicklung und sind bereit, Kompromisse bei der Work-Life-Balance einzugehen, um beruflich voranzukommen. Diese Gruppe besteht meist aus Beschäftigten, die risikoavers sind und weniger häufig ohne eine sichere Anschlussposition kündigen. Unternehmen bevorzugen diese Gruppe, da sie leichter durch traditionelle Maßnahmen wie Gehaltserhöhungen und Beförderungen zu halten ist. Doch diese Strategie gleicht einem Nullsummenspiel: Wenn Unternehmen Traditionalist:innen anwerben, verstärken sie die Konkurrenz um dieselben Talente, ohne das grundlegende Problem des Arbeitskräftemangels zu lösen.
b) Die Do-it-yourselfer
Diese Gruppe schätzt vor allem Flexibilität und Autonomie. Sie besteht aus Selbstständigen, Teilzeit- oder Gig-Arbeiter:innen, die sich bewusst gegen traditionelle Arbeitsmodelle entschieden haben. Für diese Beschäftigten sind Flexibilität, sinnstiftende Arbeit und die Freiheit, über ihre Zeit zu verfügen, entscheidend. Um diese Gruppe für traditionelle Arbeitsverhältnisse zu gewinnen, müssen Unternehmen kreative Lösungen finden, etwa durch flexible Arbeitszeitmodelle oder die Möglichkeit, Aufgaben unabhängig von festen Bürozeiten zu erledigen. Modularisierte Arbeitsprozesse und ergebnisorientiertes Management könnten Wege sein, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden.
c) Die Betreuer:innen und andere
Diese Persona umfasst Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind, um sich um Kinder, ältere Angehörige oder ihre eigene Gesundheit zu kümmern. Sie sind meist zwischen 18 und 44 Jahre alt, häufig Frauen und oftmals bereit, unter den richtigen Bedingungen wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten. Um diese Gruppe zu reaktivieren, müssen Unternehmen flexible Arbeitszeiten, Unterstützung im Bereich der Gesundheit und Wellness sowie Möglichkeiten zur beruflichen Entwicklung anbieten. Teilzeitjobs oder Modelle mit vier Arbeitstagen pro Woche könnten für diese Arbeitnehmer:innen besonders attraktiv sein.
d) Die Idealist:innen
Diese Gruppe besteht hauptsächlich aus jüngeren Beschäftigten, oft Studierende oder Teilzeitkräfte im Alter von 18 bis 24 Jahren. Für sie sind finanzielle Anreize weniger wichtig – sie legen stattdessen Wert auf sinnstiftende Arbeit, persönliche Entwicklung und ein inklusives, unterstützendes Arbeitsumfeld. Unternehmen, die diese jungen Talente anziehen möchten, müssen flexible Arbeitsmodelle anbieten und gleichzeitig in die Entwicklung ihrer Mitarbeitenden investieren. Ein starkes Gemeinschaftsgefühl und klare Karriereperspektiven sind für diese Beschäftigten entscheidend.
e) Die Entspannten (Relaxers)
Zu dieser Gruppe gehören Früh- und Altersrentner:innen, die den klassischen Arbeitsmarkt bereits verlassen haben, aber möglicherweise unter den richtigen Umständen zurückkehren würden. Sie sind in der Regel finanziell abgesichert und suchen nach sinnstiftenden Aufgaben und flexiblen Arbeitsmodellen, die ihnen erlauben, sich ihre Zeit frei einzuteilen. Um diese Gruppe zurück in den Arbeitsmarkt zu holen, könnten Unternehmen flexible Verträge und sinnvolle Projekte anbieten, die über die reine finanzielle Entlohnung hinausgehen.
Strategien für Arbeitgeber:innen
Um in diesem neuen Umfeld erfolgreich zu sein, müssen Unternehmen ihre Rekrutierungs- und Bindungsstrategien grundlegend überdenken. Es reicht nicht mehr aus, nur traditionelle Anreize zu bieten – Arbeitgeber:innen müssen sich auf die individuellen Bedürfnisse der verschiedenen Arbeitnehmer:innen-Gruppen einstellen und ihnen maßgeschneiderte Angebote machen. Dazu gehören vor allem:
- Das traditionelle Arbeitgeberangebot verbessern: Unternehmen sollten weiterhin klassische Anreize wie Aufstiegsmöglichkeiten, Gehaltserhöhungen und attraktive Jobtitel anbieten, um Traditionalist:innen zu halten.
- Ein neues, nicht-traditionelles Wertversprechen entwickeln: Für die nicht-traditionellen Arbeitnehmer:innen-Gruppen müssen Unternehmen Flexibilität, mentale und körperliche Gesundheitsleistungen, eine starke Unternehmenskultur und alternative Karrierewege betonen. Dieses Angebot muss kreativer und personalisierter sein, um die vielfältigen Bedürfnisse dieser Arbeitskräfte zu erfüllen.
- Die Talentquellen erweitern: Viele der nicht-traditionellen Arbeitskräfte suchen nicht aktiv nach Jobs, könnten aber für das richtige Angebot zurückkehren. Unternehmen sollten ihre Rekrutierungsstrategien anpassen und auf unterschiedliche Arbeitnehmer:innen-Gruppen ausrichten, indem sie flexiblere Einstellungsverfahren und Jobangebote entwickeln.
- Arbeitsplätze attraktiver gestalten: Arbeitgeber:innen sollten verstärkt in sinnstiftende Arbeit, ein Gefühl der Zugehörigkeit und starke zwischenmenschliche Bindungen investieren. Diese Faktoren machen es schwieriger für Mitarbeitende, nur wegen eines höheren Gehalts den Arbeitgeber zu wechseln.
- Ein neues Verständnis für den Arbeitsmarkt
Die COVID-19-Pandemie hat tiefgreifende Veränderungen im Arbeitsmarkt angestoßen. Arbeitnehmer:innen haben neue Erwartungen an ihre Arbeit entwickelt, und Unternehmen müssen diesen gerecht werden, um in einem umkämpften Markt wettbewerbsfähig zu bleiben. Arbeitgeber:innen, die kreative und authentische Maßnahmen ergreifen und die Bedürfnisse der heutigen Arbeitskräfte ernst nehmen, werden langfristig erfolgreicher bei der Anwerbung und Bindung von Talenten sein.
Die „Große Abwanderung“ mag den Arbeitsmarkt durcheinandergewirbelt haben, doch sie bietet auch eine Chance für Unternehmen: Sie können ihre Rekrutierungsstrategien überdenken und sich als moderne, zukunftsfähige Arbeitgeber:innen positionieren.
Die Inhalte basieren auf der Veröffentlichung:
“The Great Attrition is Making Hiring Harder”, McKinsey & Company