Auf dem shop-floor, also der Ebene des Arbeitsplatzes, sind die Veränderungen für jede Branche und jeden Betrieb individuell zu erfassen. Dies ist ein weiterer Grund, warum zum jetzigen Zeitpunkt nur vereinzelt empirische Erkenntnisse zu den durch Digitalisierung angestoßenen Veränderungen vorliegen. Eine Studie der Leibniz Universität Hannover4 im Auftrag der Hans Böckler Stiftung zeigt für die Chemische Industrie, dass es zum Teil zu paradoxalen Auswirkungen kommt: Einerseits werden Anlagen und Module umfassend automatisiert, so dass der Mensch nur noch im Störfall eingreifen muss. Obwohl damit monotone Arbeitsplätze entstehen, erfordern aber andererseits gerade diese Arbeitsplätze hochqualifiziertes Personal mit weitreichendem Prozesswissen und ausgeprägtem technischem Verständnis. Der Erhalt von Wissen und Kompetenzen für den Störfall stellt die größte Herausforderung des digitalen Wandels für die Betriebe dar. Das heißt auch, dass sich aus der Umstellung von manuellen Tätigkeiten an Produktionsanlagen hin zu computergestützter Arbeit zwar eine physische Entlastung für die Fachkräfte ergibt, aber durch die Steigerung der Komplexität von Arbeitsaufgaben auch zugleich höhere kognitive Anforderungen gestellt werden: im Umgang mit komplexen Anlagedaten benötigen Fachkräfte eine hohe Antizipationsfähigkeit und Problemlösekompetenz, um Interventionsnotwendigkeiten im Anlagenprozess zu erkennen und angemessen eingreifen zu können. Damit ist ein spezifisches Prozesswissen notwendig, das wiederum durch die Kombination von handlungspraktischen und abstrakten Wissensbeständen gekennzeichnet ist.
Mit ihren akademischen Anteilen etablieren sich vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Herausforderungen der Digitalisierung so genannte „hybride“ Bildungswege, wie z.B. duale und berufsbegleitende Studiengänge, als perspektivisch tragfähige Lösung der Qualifizierungsprobleme für den Arbeitsmarkt. Im Zuge dieser Akademisierung entstehen am oberen Rand des Berufsbildungssystems neue Bildungsformate, die nicht zuletzt aufgrund von Neugründungen zahlreicher privater Hochschulen mit einem massiven Umbau der Hochschullandschaft einhergehen. Problematisch zu bewerten ist, dass diese hybriden Bildungsformate sich den gesellschaftlich institutionalisierten und den schulisch und betrieblich etablierten Standards der Beruflichen Bildung weitgehend entziehen. Auch wenn im Zuge der so genannten „Akademisierung“ Studierende in individueller Perspektive eine Steigerung ihrer Beruflichkeit erzielen können, so ist doch fraglich, ob in den neuen Bildungsformaten tatsächlich berufliche Handlungskompetenzen erworben werden, die – wie in der beruflichen Bildung – in der betrieblichen Praxis direkt angewandt werden können. Auch hinsichtlich der Abschlüsse ist noch weitgehend unklar, welche tatsächliche Berufsqualifikation die Absolventen erlangen und welche Arbeitsmarktchancen sich damit konkret für sie verbinden.5
4. https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_144_2019.pdf ↩
5. https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_375.pdf; https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_396.pdf ↩