Zusammenfassend ist festzustellen: Das deutsche Wirtschaftssystem konnte in der Vergangenheit Krisen erfolgreich begegnen, weil das Qualifizierungsmodell im Dualen System der Berufsausbildung aufgrund der engen Verknüpfung von Arbeit, Technik und Bildung seinerseits eine hohe technische Innovationsdynamik aufweist und damit äußerst anpassungsfähig ist. Die zahlreichen Neuordnungsverfahren, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden – allein 2018 startete das Ausbildungsjahr mit 25 modernisierten Ausbildungsberufen6 – zeigen, dass unser Berufsbildungssystem durchaus „4.0-fähig“ ist. Das Zurücktreten von Fachlichkeit zugunsten einer zunehmenden Prozessorientierung hat längst eine Entsprechung in den pädagogischen Konzepten in Schule und Betrieb, denn schon seit Anfang der 1970er Jahre ist der Erwerb einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz das programmatische bildungspolitische Leitbild der beruflichen Bildung.
Entwicklungspotenzial und Handlungsbedarf besteht auf der betrieblichen Ebene: hier geht es um die Entwicklung individueller, flexibler und betriebsspezifischer Lernmöglichkeiten, um die Beschäftigten sowohl auf die steigende Komplexität von Arbeitsprozessen, als auch auf den Umgang mit Unbestimmtheit im digitalen Wandel vorzubereiten. Die Konzeption und Implementierung von lern- und kompetenzförderlichen Arbeitsstrukturen bietet Potenziale, arbeitsintegriertes Lernen als konstitutiven Bestandteil digitalisierter Industriearbeit – gerade im Umgang mit der zunehmenden Entgrenzung von Arbeits- und Lernorten – zu nutzen.
Auch wenn für 43 Prozent der Unternehmen in Niedersachsen die Digitalisierung fester Bestandteil der Geschäftsstrategie ist7 – wobei nicht die Industrie, sondern der Dienstleistungssektor eine Vorreiterrolle einnimmt – bleibt abzuwarten, inwiefern sich die neuen Technologien und Organisationsformen flächendeckend, z.B. auch im Mittelstand, durchsetzen werden. Eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt8, dass Mittelständlern oftmals eine umfassende Strategie fehlt, um auf die Herausforderungen der Arbeitswelt 4.0 zu reagieren. Aber gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen, die eine wichtige Säule der niedersächsischen Wirtschaft bilden, sind die Erfahrungen und das Arbeitsvermögen einzelner Beschäftigter bei der Ausgestaltung von „4.0 Konzepten“ von besonderer Bedeutung und müssen daher verstärkt in den Fokus gerückt werden. Damit stehen auch in Niedersachsen Politik und die Sozialpartner – also Unternehmen und Gewerkschaften sowie ihre Verbände und Bildungsträger – vor der Herausforderung, die digitale Transformation in technischer und in sozialer Hinsicht zu gestalten. Auf der bildungspolitischen, der betrieblichen und der individuellen Ebene gilt es, die gesellschaftlichen und die betrieblichen Anforderungen mit den individuellen Bildungsansprüchen der Menschen in der digitalisierten Arbeitswelt zu vermitteln.
6. https://www.bibb.de/de/pressemitteilung_82427.php ↩
7. https://www.digitalisierungsindex.de/digitalisierung-bundeslaender/digitalisierung-niedersachsen ↩
8. https://library.fes.de/pdf-files/wiso/12277.pdf ↩
Ein Beitrag von Prof. Dr. Rita Meyer